Die Kunst der Reflexion

Tarkovskij und die Spiegel

„Nie potrzeba nam innych światów. Potrzeba nam luster.“
„Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel.“                                                                          

in Stanisław Lems “Solaris”

In der Lektüre von Stanisław Lems Roman „Solaris“ stößt man unausweichlich auf dieses Zitat. So muss auch Andrej Tarkovskij über diese Worte gestolpert sein und den Imperativ nach Spiegeln für seine davon ausgehende Filmographie internalisiert haben. Wohl kaum ein:e Filmmacher:in spielt über weite Teile so deutlich mit der Metaphorik und der Physik von den silbrig glatten Reflexionsflächen. Damit betreibt Tarkovskij, ob nun inszenatorisch, philosophisch oder psychoanalytisch, die Kunst der Reflexion. Daher möchte ich auszugsweise einen Blick in das Gesamtwerk des Filmemachers wagen, um dem Motiv der Spiegel auf die Schliche zu kommen.

Aber warum überhaupt Spiegel?

Eine Rezeption des Spiegels, und sie war in der Vergangenheit schon häufiger Thema im Epigonal, ist die der Psychoanalyse Jacques Lacans. Kurzum ist bei Lacan das Konzept des Spiegelstadiums beschrieben, welches in den Prozess von Kindern beschreibt, indem sie sich selbst im Spiegel begegnen und dadurch eine erste Identifizierung des eigenen Körpers und der eigenen Außenwahrnehmung zu erfahren. Durch das Spiegelstadium reift also das reflexive Selbstbild eines Subjekts überhaupt erst zum selbsterkannten Individuum. Zuhauf existieren Videos von Tieren und ihrer befremdlichen Reaktion auf das eigene Spiegelbild. Dem griechischen Kredo „Erkenne dich selbst“ folgend, ist die Identifizierung mit dem Spiegelbild also zu Teilen dem Menschen in seiner Entwicklung vorbehalten. Der Spiegel erhält dadurch also die Hoheit darüber, das Bewusstsein über das Wesen zu offenbaren, welches in ihn hinein blickt. Spiegel sind also immer auch Symbole innersubjektiver Reflexions- und Erkenntnisartikulationen.

Die Berücksichtigung des Spiegels als Objekt im räumlichen Spannungsfeld führt uns hingegen zu Michel Foucault. In der Auseinandersetzung mit Topologien und der Wechselseitigkeit von Räumen stellt Foucault zwei Arten von Räume heraus, „die mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen anderen Platzierungen widersprechen“[1]. Das sind zum einen die Utopien als unwirkliche Orte, Nicht-Orte oder Räume, die die „Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft“[2] darstellen. Zum anderen nennt er die Heterotopien. Hierbei handelt es sich hingegen um wirkliche Räume, die aber durch ihre Funktion isoliert sind und die als Projektionsfläche zur ritualisierten Be- und Verhandlung gesellschaftlicher Gruppen dienen. Ein gängiges Beispiel wären Krankenhäuser oder psychiatrische Kliniken, aber auch Friedhöfe, Theater, Kinos, Bibliotheken oder Museen zählt Foucault darunter. Spiegel treten nun laut Foucault in dieser Dichotomie von Utopie und Heterotopie als ein liminaler Raum, also als ein Grenzraum, in Erscheinung. Spiegel können Funktionen beider Raumtypen innehaben indem sie zum Beispiel die Realität wiederspiegeln und zum anderen einen Illusionskörper für das hineinschauende Subjekt darstellen. Spiegel sind also ein räumliches Unikum zwischen der Verhandlung von subjektiver Realität und Fiktion und kann unter dem Gesichtspunkt mit der oben benannten Reflexions- und Erkenntnisartikulationen gesetzt werden.

Solaris, 1972

1961 erschien Stanisław Lems Science-Fiction-Roman „Solaris“. Im Buch sowie in der Verfilmung von Tarkovskij wird der wissenschaftliche Forschungsaufenthalt in einer Raumstation nahe dem namensgebenden Planeten Solaris zu einem existenzialistischen Fiebertraum.  Kurz nach der Ankunft des Psychologen Kris Kelvin in der Station findet er eine undurchsichtige Situation vor. So hat sich sein langer Bekannter Gibrarian, der bei Solaris stationiert war, aus für ihn unklaren Umständen jüngst das Leben genommen. Die zwei anderen Wissenschaftler auf der Station, Snaut und Sartorius, erscheinen distanziert, zurückgezogen und misstrauisch. Nicht bald erscheinen ihm vermeintliche Halluzinationen, die sich als physisch real existierend herausstellen. So erscheint ihm nach kurzem Aufenthalt in der Station Harey, Kelvins ehemalige Freundin, die sich vor mehreren Jahren auf der Erde das Leben genommen hat. In physiognomischer Gestalt, wie Kelvin sie zuletzt gesehen hat, ist Harey an ihn als sein Gefäß der Projektion gebunden und gibt Kelvin Aufschluss über die bizarre Situation auf der Station. So wird jeder der Wissenschaftler von derlei Gästen besucht, die auch nach Bemühungen, sie loszuwerden, immer wieder aufs Neue erscheinen und die Wissenschaftler wohl auf unterschiedliche Weise mit ihrer irdischen Vergangenheit konfrontieren. Umso mehr Fragen werfen diese Umstände jedoch über Solaris selbst auf. Als eine psychologische Charakterstudie scheint der Planet auf alle menschlichen Bewohner der Raumstation einzuwirken und kehrt, zumindest bei Kelvin, das nach außen, was in ihm geschlummert hat: Die traumhafte Gestalt Hareys und die traumatischen Erinnerungen ihres Ablebens. Der Aufenthalt auf der Forschungsstation von Solaris wird für die Bewohner zu einem Spiegel der das Unbewusste eines Subjekts zutage fördert und materialisiert. Aber hier hört der reflexive Charakter der Geschichte nicht auf. Die falsche Harey, durchläuft im Laufe der Geschichte eine Subjektivierung. Anfangs in der Rolle der Harey, die eigentlich vor vielen Jahren auf der Erde verstorben ist, stellt sich die Projektion zunehmend selbst in Frage. In einer Schlüsselszene betrachtet sich Harey während sie mit Kelvin spricht:

Harey: „Ich kenne mich selbst nicht und erinnere mich nicht. Ich schließe meine Augen und schon vergesse ich mein Gesicht. Und du?“
Kelvin: „Was?“
Harey: „Kennst du dich selbst?“
Kelvin: „Ja, so wie es jeder Mensch tut.“

Dass sich die falsche Harey im Spiegel nicht erkennt, lässt sich erklären mit der oben ausgeführten Psychoanalyse Jaques Lacans und seine Theorie des Spiegelstadiums. Indem der falschen Harey die Selbsterkenntnis auf der einen Seite nicht möglich ist und indem Kelvin anmerkt, dass er sich selbst kennt, wie es doch „jeder Mensch“ tut, wird Harey das Menschsein abgesprochen. Auf der anderen Seite erkennt Harey genau diese entmenschlichte Tatsache über sich selbst. Das Nicht-Subjekt subjektiviert. Ein Paradoxon. Der Spiegel ist reflexiver Mediator über den Zustand des Subjekts und während Harey als Spiegelmedium einen Zustand über Kelvins Unbewusstes offenbart, offenbart der tatsächliche Spiegel die entmenschlichende Erkenntnis über Hareys Zustand als fremder Organismus dessen, was Lacan als das Reale beschreibt. Unter Rückbesichtigung des eingangs genannten Zitates aus der Romanvorlage, lassen sich also sowohl Buch, als auch Film hinsichtlich der Motive psychoanalytischer Selbstreflexion rezipieren.

Der Spiegel, 1975

Der Filmtitel dieses Werkes gleicht wohl einem Wink mit dem Zaunpfahl, war dieser Film doch ein frühes Herzensprojekt Tarkovskijs und behandelt als assoziative Anthologie viele autobiographische Aspekte aus Tarkovskijs Leben, dass auch das Auftauchen von Plakaten zu Tarkovskijs zweitem Langspielfilm „Andrej Rubljow“ von 1966 nicht einfach als Easter Egg zu verstehen ist. Die episodische und anachronistische Erzählstruktur wird dadurch auf darstellerischer Seite geprägt, dass sowohl die junge, alleinerziehende Mutter als auch die geschiedene Frau des Protagonisten Alexei von Margarita Borissowna Terechowa verkörpert werden, während der Protagonist in seiner Kindheit, sowie sein späterer Sohn jeweils von Ignat Danilzew verkörpert werden. Diese stilistische Repetition von familiären Strukturen, ähnelt dabei bereits einer, dem Droste-Effekt ähnelnde, rekursive Spiegelung und lässt Rückbezüge zu Tarkovskij zu. Tarkovskij versichert dabei allerdings auch, dass es in dem Film nicht einfach um ihn selbst geht, sondern vielmehr um seine Gefühle gegenüber den Menschen und Beziehungen, die ihm am Herzen liegen. In seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ schreibt er dazu:

„Im Spiegel wollte ich nicht von mir selbst erzählen, sondern viel mehr von dem, was ich für mir nahestehende Menschen empfinde, von meinen Beziehungen zu ihnen, meinen ewigen Mitgefühl für sie, aber auch von meinem Versagen und meinen Gefühlen unaufhebbarer Schuld ihnen gegenüber. Die Ereignisse, an die sich der Held bis ins letzte Detail während seiner schwersten Krise erinnert, lassen ihn leiden, rufen in ihm Sehnsucht und Unrast hervor.“[3]

Damit ist „Der Spiegel“ wohl bereits das persönlichste Werk in Tarkovsijs Filmografie und verarbeitet thematisch seine Kindheit in Kriegsjahren mit geschiedener, alleinerziehender Mutter gepaart (die im Übrigen eine Schauspielrolle im Film besetzt) mit einer Melancholie, die aus dem lyrischen Schaffens des Vaters rührt:

Jeder Moment, den wir zusammen waren
war ein Fest, wie Epiphanie.
Nur wir zwei allein in der Welt.
Du, kühner, leichter als eines Vogels Flügel
schwindelerregend die Treppe hinunter.
Über Stufen springend mich führend
durch feuchten Flieder in dein Reich,
das liegt jenseits des Spiegels.

Aus „Erste Begegnung“ von Arsenij Tarkovskij

Darüber hinaus tritt der namensgebende Spiegel häufiger in der Mise en Scène in Erscheinung. In enigmatischen Sequenzen sind Spiegel und Reflexionsflächen wie spiegelnde Wasser- oder Glasflächen untermalen die Spiegelungen die mystische Atmosphäre und werden sorgsam im Bild positioniert und eingefangen. Ganze Monolog- oder Dialogsequenzen werden vor oder durch Spiegel hindurch inszeniert. Ein Beispiel: Die Kamera als Point of View des Protagonisten Alexei, sprechend mit seiner Exfrau, die sich im Spiegel betrachtet um mit intrinsischer Diabolik über die Spiegelreflexion ihrem Exmann und somit dem Zuschauenden direkt in die Augen zu sehen und die vierte Wand zu durchbrechen. Immer wieder finden sich Spiegel, mal größer, mal kleiner, mal glanzvoller, mal blind und in Flammen, im Bildausschnitt und ermöglichen den Zuschauenden oder Protagonisten forcierte Blickwinkel auf das Geschehen. Sie geben Aufschluss über die oft kargen und maroden Kulissen oder dienen dem inszenatorischen Foreshadowing. Etwa wenn die Kamera im Bildhintergrund einen Spiegel einfängt und als nächstes zu eben jenen Ort schwenkt, den wir im Spiegel zuvor nur unklar sehen konnten. Der Filmtitel könnte vom Singular also nahtlos dem Plural weichen. Denn viele Blicke in verschiedenste Spiegel und viele Blickwinkel auf Spiegel erlaubt uns der Film, indem er uns über eine angelehnte Wandschrank-Spiegeltür einen assoziativen und ausschnitthaften Blick in das Leben Tarkovskijs erhaschen lässt.

Stalker, 1979

Mit „Stalker“ inszeniert Tarkovskij eine erneute wenn auch losere Buchvorlage auf Grundlage des Science-Fiction Romans „Picknick am Wegesrand“ von den Strugackij –Brüdern, die auch das Skript für die Verfilmung lieferten. In eine von unsichtbaren Gefahren bespickte und militärisch abgeschottete Sperrzone brechen die namensgebenden Stalker ein, um Schauinteressierte als Ortskundige durch die Risiken der Sperrzone zu manövrieren. Im Film ist das meist begehrteste Reiseziel ein Raum, der jeder Person, die ihn betritt ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen soll. Ein Schriftsteller und ein Professor machen sich im Film also bei dem Stalker vorstellig um zu jenem Raum geleitet zu werden. Was daraus entwächst ist eine Reise dreier Grund auf verschiedener Charaktere: Dem Schriftsteller als Opportunisten und Skeptiker, der die vermeintliche Wunder bringende Wirkung des Raumes nutzen will, um eine kreative Blockade zu überwinden; dem Stalker als Altruist, der sich der Zone in demütiger Frömmigkeit beugt, die Zone mehr noch als seine Familie als sein Zuhause betrachtet und Sorge trägt, dass niemand vom vorgesehenen Weg abkommt; und der Professor, der sich insgeheim und durch seine selbsternannten Rationalität voreingenommen zum Ziel gesetzt hat, den Raum zu zerstören, um einen Missbrauch vorzubeugen.

Auf erzählerischer Ebene präsentiert „Stalker“ ein gesamtgesellschaftliches Dreiergespräch zwischen den drei Disziplinen der Kunst, des Glaubens und der Wissenschaft. Diese Trias repräsentiert durch die drei grundverschiedenen Charaktere spiegeln dabei gleichwohl drei verschiedene Rezeptions- und Bewältigungsarten der Realität wieder. In diesem Falle besteht die Realität aus der fundamentalen Grundannahme, dass der metaphysische Raum, der Wünsche erfüllt, wirklich existiert. Während der Stalker dadurch überhaupt erst zum Evangelisten wird, soll dem Schriftsteller das Erlebnis wieder zu Worten finden lassen, womit die Realität faktisch zur Kunst beflügelnden Muse wird. Ein Wunsch erfüllender Raum ist jedoch nicht mit rationalen Parametern quantifizierbar. So scheint es nur schlüssig, dass der Professor diesen mystischen Raum als eine absolute und unkontrollierbare Anomalie versteht, die es zum Wohle des natürlichen Gleichgewichts zu beseitigen gilt. So spiegelt der Film mitunter einen Theologiediskurs wieder, der im Laufe des Films zwischen den drei Parteien ausgetragen wird.

„Mein Bewusstsein möchte den Sieg der vegetarischen Lebensweise, mein Unterbewusstsein giert nach einem saftigen Stück Fleisch. Also: was will ich?“

der Schriftsteller

Erneut finden wir ebenfalls eine Abhandlung über die Psychoanalyse der unbewussten Begierde. Der Stalker erzählt seinen Mitreisenden die Geschichte von seinem einstigen Lehrer Stachelhaut. Dessen Bruder kam in der Zone ums Leben, indem Stachelhaut ihn vorweg in eine tödliche Falle laufen ließ. Mit der Intention seinen Bruder wieder zum Leben zu erwecken, machte sich Stachelhaut auf zum Raum der Wünsche im Inneren der Zone. Nachdem er den Raum betreten hatte erlangte er Reichtum. Sein Bruder hingegen blieb verstorben, woraufhin Stachelhaut der Freitod wählte. „Ja, weil er hier begriffen hat, dass nicht einfach Wünsche, sondern die geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen. […] Tja, hier erfüllt sich, was deiner Natur entspricht, deinem Wesen. Von dem hast du keine Ahnung aber es sitzt in dir.“, schlussfolgert der Schriftsteller. Es sind also nicht die selbstgewählten, ausgesprochenen Wünsche die in Erfüllung gehen sollen. So war Stachelhaut der finanzielle Wohlstand unbewusst wichtiger als das Leben seines Bruders, wessen Erkenntnis zu seinem Freitod geführt haben wird.  Wie schon in Solaris spielen also die Manifestation und das Ringen mit dem Unbewussten eine tragende diskursive Rolle. Die Ehrfurcht vor der Konfrontation eigenen Unbewussten sorgt schließlich dafür, dass am Ende niemand den Raum betritt, niemand wagt also den Blick in den Spiegel – aber auch zerschlagen wird er nicht.

Nostalghia, 1983

„[Die] tiefe, mich immer mehr erschöpfende Trauer über die Ferne der Heimat und der vertrauten Menschen, die einst jeden Moment meines Lebens prägten. Dieses verhängnisvoll bindende Gefühl der Abhängigkeit von der eigenen Vergangenheit, diese immer unerträglichere Krankheit heißt Nostalgie“[4]

In „Nostalghia“ macht Tarkovskij, der viele Jahre seines Lebens fernab seiner Heimat gelebt hat, unter anderem eben jene melancholische Rückbesinnung zur Heimat zum Thema. Der Film erzählt vom russischen Schriftsteller Andrej Gortschakow, der auf einer Italienreise zu einem italienischen Komponisten forschen will, um über ihn eine Biographie zu verfassen. Auf seiner Reise wird er mit Gefühlen des Heimwehs und der Isolation konfrontiert und lernt unterdessen Eugenia, die für ihn arbeitende Dolmetscherin, sowie den asketisch lebenden und für verrückt gehaltenen Mathematiklehrer Domenico näher kennen. Während der Protagonist Andrej in Traumsequenzen über sein Heimatland Russland reminisziert und einen Zugang zur christlichen Spiritualität findet, ist Domenico bemüht einen aufklärerischen Akt zu vollführen und die Gesellschaft mit ihren zeitgenössischen Dualismus von den „Normalen“ und den „Verrückten“ aufzurütteln – ohne sichtbaren Erfolg für seine Sache.

Alle drei Charaktere zeichnen sich trotz ihrer Interaktion zwischen einander durch das hohe Maß an Isolation und Einsamkeit aus. Die sorgfältig und stringent in der Mise en Scène platzierten Spiegel dienen den Charakteren in dieser Situation zum wohl banalsten Zweck: der Selbstreflexion und zum stetigen Prüfen der eigenen Identität. Nur für Andrej zeigt sich auffällig, dass er den Blick in den Spiegel scheinbar aktiv zu meiden bemüht ist. Wie schon das Trio in Stalker den Raum nicht zu betreten gewagt hat, wagt er die Konfrontation mit seinem selbst nicht. Er weiß, dass die Nostalgie ihn belastet. So ist die simple Vermeidung der Selbstkonfrontation im Spiegel gleichfalls eine vergebliche Vermeidung an jedweden Gedanken seiner subjektbezogenen Deplatziertheit. Vergeblich, da die konstante Konfrontation mit der fremdländischen, italienischen Toskana bereits genug entfremdende Tragkraft hervorruft. Erst in einer Traumsequenz gegen Ende des Films, als Andrej an einem Kleiderschrank mit Spiegeltüren vorbeiläuft, hält er inne, kehrt zum Spiegel zurück und erblickt im Spiegel nicht etwa sein Ebenbild, sondern erkennt sich als Domenico. Die Spiegelung verdeutlicht eine Identifikation mit Domenico, wodurch das entfremdende Gefühl der Isolation beider Charaktere in Beziehung gesetzt wird. Sie teilen sich das Gefühl der Einsamkeit und der Zerrüttung ihrer gegenwärtigen Existenz. Geht man mit Albert Camus, so sehen sich beide Protagonisten auf unterschiedliche Weise mit dem Absurden konfrontiert. Camus beschreibt das Absurde in seiner Philosophie des Absurdismus unter anderem als das „Heimweh nach der Einheit“. Für Andrej, der in Italien entwurzelt und in der Übersetzung verloren ist, besteht hier die Einheit seines Seelenlebens tatsächlich in der Heimat.

„NON SIA-MO MAT-TI, SIA-MO SE-RI.“

Scheut Andrej wie oben beschrieben den Blick in den Spiegel, scheuen ihn Domenico und Eugenia hingegen nicht. In Domenicos vollends desolater, und undichter Behausung steht ein stark verschmutzter, blinder Spiegel. Bei ihm, dem als „verrückt“ deklassierten, zeichnet sich in seiner eindringlichen Selbstreflexion im benannten Spiegel der Zweck der eigenen Bewusstseinsprüfung ab. Ist er der Verrückte, zu dem er ernannt wurde? Und selbst wenn, warum zieht die Gesellschaft eine Lebensparallelität zwischen den „Verrückten“ und den „Normalen“ vor? Daher plädiert Domenico mit radikalsten Mitteln für die Aufhebung dieses Dichotomie von Wahnsinn und Vernunft, wie sie Foucault schon in seiner genealogischen Herleitung benannte, aber trifft dabei auf eine lethargische Reaktion der Mehrheitsgesellschaft, sowie der policeylichen Intervention diese Anomalie zu unterbinden. Um noch einmal auf Camus zurück zu kommen, so beschreibt er den Selbstmord unterdessen als eine Flucht aus dem Absurden. Unter diesem Gesichtspunkt greift Domenico in Camus‘ Sinn nach einem fatalen Mittel. Die vermeintliche Revolte, die zu dem in der Öffentlichkeit zu Schau getragen wird, ist nach Camus leider vielmehr eine gescheiterte Revolte, denn für ihn läge die Revolte in der Formung eines freiheitlichen und selbstbestimmten Lebens – auch im Angesicht der Erkenntnis über das omnipräsente Absurde.

Indem Eugenias Annäherungsversuchen von Andrej zurückgewiesen werden, kommt es zwischen ihnen zum Zerwürfnis. Während Andrej sich durch diverse Erinnerungen an sein Vaterland bewusst ist, in welche Richtung sich seine Schwermut richtet, ist Eugenias Quell der Sehnsucht unterdessen unstet. Sie sucht die körperliche und seelische Nähe zu Männern, aber weiß bei der Abweisung von Andrej nicht recht ihn oder sich selbst für die Rückweisung verantwortlich zu machen. So geht aus ihrer Wutrede zu Teilen nicht eindeutig die adressierte Person hervor. Wenn sie in den Spiegel schauend über die eingeschränkte Freiheit flucht, kann sich das gesprochene Wort an Andrej richte, der zu dem Zeitpunkt jedoch nicht im Bild ist. Vielmehr wirkt es, als würde Eugenia mit ihrem Spiegelbild sprechen und sich selbst Vorwürfe machen. Erst mit der Abwendung von Spiegel und der Umorientierung nach dem Gesprächspartner wird der Adressat wieder deutlicher, obgleich Andrej dennoch schweigend und außerhalb des Bildes verharrt. So bemüht sich Eugenia mit sprichwörtlichen, wie wortwörtlichen Fäusten Andrej zu diskreditieren und beschimpft ihn etwa beinahe seine Frau betrogen zu haben, obwohl das zuvor genau ihre Intention war.

Die filmische Erzählung thematisiert damit die heimatlichen Beziehungen und sozialen Abhängigkeiten von Individuen und verweist immerzu auf pater- oder maternalen Strukturen als Orte der Sehnsucht. Sei es Madonna als Mutter Gottes oder seien es die Erinnerungen ans Vaterland. Aber sei es auf der Ebene des Regisseurs auch Arseni Tarkovskij als Vater von Andrej, in dessen künstlerische Fußstapfen er tritt und den er im Film zitiert, oder sei es Andrejs verstorbene Mutter, der dieser Film gewidmet worden ist.

Ein Liebesbrief

Neben dem Versuch Tarkovskijs Filmen in einer analytischen Betrachtung gerecht zu werden, ist dieses Essay gestartet als ein Liebesbrief an einen der für mir poetischsten Filmemacher seit der Erfindung des Bewegtbilds. Unter vielerlei Aspekten und vor dem Hintergrund vieler Theorien und biographischer Einflüsse lassen sich die Filme Tarkovskijs betrachten. Das Hauptaugenmerk auf den Gegenstand und die Metaphorik der Spiegel zu setzen war mein Ansatz. Mal pointierter, mal verklausulierter finden sich in all den oben genannten Filmen Tarkovksijs dabei der bedachte und tiefgreifende, da der reflektierten (haha!) Umgang mit Reflexionen und Spiegeln. Letztlich ist es aber die allumfassende Hingabe für Set, Kamera, Komposition, Schauspiel und Narrative, die Tarkovskij bei all seinen Werken zu einem einzigartigen Meister des Films macht. Reflexionen und Spiegel sind Instrumente, die Tarkovsij zu benutzen wusste, die die Teilbereiche des Filmemachens miteinander verweben und damit eine Charakter- und Bildsprache erzeugt, die von fesselnder Authentizität und Immersion geprägt sind. Schließlich sehen wir während Tarkovskijs Filmen selbst in den Spiegel und hinterfragen unseren Geisteszustand (Solaris), unsere Vergangenheit (Der Spiegel), unsere Wünsche und Ziele (Stalker), oder unsere Beziehungen zur Gesellschaft und zu elterlichen Figuren (Nostalghia).

 „Möge jeder, der dies wünscht, sich meine Filme wie einen Spiegel anschauen, in dem er sich selbst erblickt. Wenn die Filmkunst ihr Konzept in lebensähnlichen Formen fixiert, es so organisiert, dass es vor allem emotional spürbar wird, dann kann sich der Zuschauer dazu auch unter Rückbesinnung auf seine eigene Erfahrung in Beziehung setzen.“[5]

Quellen:

Beitragsfoto von Valentin Salja auf Unsplash

Camus, Albert (2000): Der Mythos des Sisyphos. Hamburg: Rowohlt Verlag.

Foucault, Michel (1992): Andere Räume, in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, S. 34–46.

Foucault, Michel (2019): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Foucault, Michel (2020): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Tarkovksi, Andrej (2021): Die versiegelte Zeit. Berlin: Alexander Verlag.


[1] Foucault (1992): 38

[2] ebd.: 39

[3] Tarkovski (2021): 162 f.

[4] Tarkovski (2021): 239

[5] Tarkovski (2021): 219

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