Hentai-Rufe, Panchira (Pantyshots), exaltierte Martial Arts mit Sensei- und Schüler-Figuren und ein Katana-Blutbad, das schon Tarantino am alten japanischen Kino inspirierte. Für das Populärkultur-geschärfte Auge ist Sion Sonos Film “Love Exposure” (2008) eine Ballung von Stereotypen japanischer Unterhaltungsmedien, die noch heute Verwendung finden. In einer User-Review zum Film las ich mal, dass “Love Exposure” zu “100% Japan” sei und mit den eingangs eingeführten stereotypisch rezipierten Motiven liegt diese teils verkürzte kulturalistische Schlussfolgerung sehr nahe. Für ein etwas geschulteres Auge japanischen Kinos zeigen sich hingegen bereits offene Kommentare auf die im Film auftretenden Stereotype. Um seiner verlorenen Wette nachzugehen, sich als Frau zu verkleidet und eine andere Frau, Yoko, zu küssen verkleidet sich Protagonist Yu als “Sasori”, der unbarmherzigen und in schwarz gekleideten Kämpferin aus der gleichnamigen Manga- und Filmreihe der 60er und 70er Jahren. Gerade die zitierten Filme, angesiedelt zwischen dem Sexploitation- und Pinku Eiga- (pink film) Genre, können durch die Protagonistin, die sich im Kampf mit einem qualvolles Patriarchat befindet, als ein alternativloser, gewaltsamer Emanzipationsversuch verstanden werden. So scheint es auch nicht verwunderlich, dass Yus/Sasoris Hilfe in Yokos Kampf nicht explizit notwendig erscheint, bewährt sich Yoko in “Love Exposure” auch ohne die Hilfe von Yu als kämpferische Protagonistin selbst sehr gut gegen die Übermacht an Streit suchenden Männer. Auf die sexualisierten, objektifizierenden, diskriminierenden Mechanismen der Männer folgen darauf also auch hier im wahrsten Sinne weibliche Befreiungsschläge.
Ich würde der prägnanten, wenn auch plakativen, Äußerung, dass “Love Exposure” zu “100% Japan” wiederspiegelt zwar gewissermaßen zustimmen, sehe aber die phänomenologischen Parallelen zur Realgesellschaft statt bei den naheliegenden Stereotypen an anderen Stellen. Mit dem Film “Love Exposure” (2008), aber auch mit seinen vorangegangenen Werken “Suicide Club” (2001) und “Noriko’s Dinner Table” (2005) arbeitet Sion Sono viel mehr die realgesellschaftlichen Traumata auf, mit denen sich Japan eine Dekade zuvor konfrontiert sah und richtet den Blick auf existentialistische Aspekte Japans, die in seiner Romantisierung gerne außer Acht fallen.
Mit der Annahme einer hundertprozentig japanischen DNA in “Love Exposure” strauchelt man bereits bei dem Leitmotiv der christlichen Religion in Japan, die im Film als Handlungsfundament auftritt. Wenn man denn „100% Japan“ abbilden wollen würde, wäre eine Geschichte von shintoistisch oder buddhistisch geprägten Protagonisten naheliegender, umfasst das Christentum doch nur einen kleinen Bruchteil der japanischen Gesamtgesellschaft mit einem Konfessionsanteil von etwa 1%. Man kann sich also zu Recht fragen, was für ein Bild uns der Film von Japan zeigen will. Die Antwort ist banal: Der Film will eben vorerst kein Bild von der Mehrheitsgesellschaft erzählt. Indem er diese Ambition ablehnt, widmet er sich japanischen Randerscheinungen, die zur seltener mikroskopierten Realgesellschaft Japans zählen. Die Annahme, dass “Love Exposure” zu 100% japanische DNA inkarniert entsteht also nicht obwohl, sondern gerade weil sich Sion Sono den entlegenen Strängen japanischer Minderheitsphänomene widmet und diese zu einem Milieu von Interesse avanciert. Doch transformiert sich die Geschichte zu einer gesamtgesellschaftlichen Momentaufnahme, sobald uns die Protagonisten einer weiteren Konfession präsentiert werden. Die Anhängerschaft der Sekte Zero Church.
Trotz, oder gerade wegen dieser, auf dem ersten Blick diffusen Narrative mit unerwarteten japanischen Gesellschaftsbezug lassen sich in den genannten Filmen explizite Zitate vom Japan der 1990er Jahre finden. Eine Zeit in der die japanische Gesellschaft die Einflüsse von neuen spirituellen Strömungen spürten, die ihren Tiefpunkt im Giftgasanschlag in der Tōkyōter U-Bahn am 20. März 1995 durch die ōmu shinrikyō-Sekte fand. Über die klassischen, überzeichneten Stereotype hinaus beschäftigt sich “Love Exposure”, aber eben auch die beiden anderen Werke von Sion Sono, also mit einem japanischen Kulturdiskurs, der spirituellen Identität Japans und ihren Auswüchsen religions-ideologischer Doktrinen in der postmodernen, japanischen Gesellschaft.
Der Begriff des „New Age“ ist so schlicht wie er dadurch auch undurchsichtig ist, umfasst er doch ein außerordentliches Spektrum an neureligiösen, spirituellen, okkulten und esoterischen Weltanschauungen mit individuellen Konzepten von Wissenschaft und eigenen Modellen von Philosophie und Metaphysik. Der Auftritt neureligiöser Vereinigungen ist dabei nur im breiten Zeitverständnis tatsächlich neu, doch lässt sich für die 80er und 90er Jahre eine Konjunktur beobachten. Nicht nur in Japan, sondern auch in Europa oder Amerika. Die Flucht in neue, alternative Gruppierungen zeigt sich dabei unter anderem von sozioökonomischen Wendezeiten bedingt – von explizit negativen Wendezeiten, wie die britische Soziologin Grace Davie am Beispiel Großbritanniens spezifiziert. Gerade die vorangegangene Ölpreiskrise in den 70er Jahren lässt sich sowohl in Großbritannien als auch in Japan als ein Fluchtmotivator begreifen, der zeigt wie sich vor einem scheinbaren globalen Kollaps des technologischen Fortschrittsbestrebens hinein in ökoesoterische Weltbilder geflüchtet wird. In Japan bleibt der „spirituelle Markt“, wie ihn Gebhardt nennt, über die Krise erhalten und erfreut sich Beliebtheit. Während der 80er Jahre wurde so etwa die neue Religionsgesellschaft ōmu shinrikyō um den Anführer Shōkō Asahara gegründet, die späterhin auch eine Akkreditierung erhielt. In den 90er Jahren trifft für Japan dann das Platzen der Wirtschaftsblase aus den Vorneunzigern ein.
Die sogenannte verlorene Dekade und dessen wirtschaftliche Destabilisierung und Deflation brandmarkte Japan nachhallend. Die japanische, als klassenlos geltende, Gesellschaft erfuhr eine Polarisierung. Durch die Rezession in Japan und die Herausbildung einer „stratifizierten Gesellschaft“, welche zunehmend mit Armut und sozialer Ungleichheit einherging, bildeten sich in Japan neue Formen der prekären Arbeitsverhältnisse und atypische Beschäftigungen. Working Poor, Freeter, Dispatch-Arbeitende und nicht geregelte Beschäftigungsverhältnisse mehrten sich. Als Maxime der Prekariatsentwicklungen bildeten sich verstärkt die Randphänomene der NEETs, parasaito shinguru und der hikikomori. Dabei betreffen diese Phänomene die gänzliche Teilnahmslosigkeit am Berufsleben aus verschiedenen Gründen der Antriebslosigkeit und dem Gefühl mangelnder sozialer Integration. Das führt eben zur kompletten finanziellen Abhängigkeit von den Eltern (parasaito shinguru) oder zur größtmöglichen Abschottung von der Gesellschaft und sozialen Kontakten (hikikomori). Viele der Phänomene, wie die Freeter, parasaito shinguru und hikkikomori sind dabei besonders bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe zu finden. Ende der 00er Jahre beschrieben die Freeter etwa 20% der Beschäftigten zwischen 15 und 34 Jahren. Freeter weisen bewusst durch Teilzeitbeschäftigungen eine hohe Fluktuation an Jobs auf, um sich keinem Unternehmen zu verschreiben. Anders als bei den westlichen Phänomenen der Praktika und Studentenjobs gelten Freeter-Beschäftigungen jedoch als keine positiv attribuierte Weiterbildung. Eher gelten sie als Sicherung der Lebensgrundlagen, wenn die Jobsuche erfolglos war oder um nebenher persönlichen Interessen nachzugehen. Durch die Omnipräsenz dieses Arbeitsverhältnisses bei jungen Japaner:innen zeigten sich bei diesen Tendenzen, dieses atypische Arbeitsverhältnis nunmehr zum Normalarbeitsverhältnis und zur Normalbiografie umzudeuten. In diese gesellschaftlich liminale Phase setzt sich nun also auch noch ein Spross von neuen Spiritualitäten, neuer Konzepte des Irdischen und des Transzendenten, und mit ihnen eigens vorgesehene Gruppierungen.
Suicide Club & Noriko‘s Dinner Table
“Suicide Club” von 2001 mögen Leute als einen sozialen Kommentar auf Japans Suizidalität verstehen, doch ist auch dies nur der naheliegende Aspekt in Anbetracht des zugrundeliegenden Themas. Dass „Club“, bzw. im Original „Circle“, gleichwertig im Titel vertreten ist zeigt, wie hier zwei prägende Diskurse verwoben werden. Ja, zum einen die Suizidalität. Zum anderen aber die organisierte Form und die habituellen Zugehörigkeitsmechanismen, durch die der Club sich überhaupt erst als eine Art Gruppierung begreifen lässt. Eben weil das Auftreten der Suizide organisiert ist, wird daher von den Ermittlern im Film diskutiert, ob es sich um einen Kult handelt. Massenselbsttötungen sind Rituale, die bereits im Kontext von Sekten und Kulten auftraten. So geschehen um den Sektenführer James Warren Jones und seiner Gruppierung Peoples Temple 1978 oder bei der neureligiösen Vereinigung Heaven’s Gate 1997. Zu den Anschlägen der ōmu shinrikyō-Sekte stellt ein Massensuizid gewissermaßen eine Umkehrung dar, trifft damit aber gleichzeitig den Nerv einer existenzbedrohten und perspektivlosen jungen Generation Japans. Damit ist “Suicide Club” sowohl eine intelligente Invertierung, als auch ein direktes Zitat auf Traumata der 90er Jahre. Ein weiteres Zitat zeigt sich durch den Schauplatz der Eingangssequenz. Der Film beginnt mit einer brachialen Sequenz, in der sich 54 Schulmädchen kollektiv und Händchen haltend vor eine einfahrende U-Bahn werfen. Hiermit wird nicht nur bereits verdeutlicht, wer die handelnden Akteure des Suicide Clubs sind. Die Mädchen hätten den Selbstmord zudem auf diverse Art und Weise bewerkstelligen können. Im Verlauf des Films folgen auch eine Reihe an Einzel- oder Massensuiziden verschiedenster Sorte und Bizarrerie. Mit der Eingangssequenz hat Sion Sono jedoch direkt einen Auslösereiz des U-Bahn Traumas gewählt und damit einen schmerzlicher Weckruf des Schauplatzes von ōmu shinrikyō gewagt. Im Laufe der Ermittlungsarbeit wird später im Film diskutiert, ob es sich bei der Selbstmord-Reihe um Mord handelt, also welche Person inwiefern Einfluss auf die Opfer gehabt hat. In diesem Zuge wird ein vermeintlicher Sektenführer festgenommen. Nach der Festnahme bezeichnet sich dieser als „Charles Manson des Informationszeitalters“. Der vermeintliche Sektenführer im Film verweist außerdem in seiner Doktrin auf die Girl-Group namens „Dessert“, deren populäre Lieder den Film begleiten. Es zeigt sich, dass diese in ihrer öffentlichen Erscheinung unterschwellige Botschaften mitteilen, auf die sich der vermeintliche Sektenführer beruft. So offenbart sich auf dem Poster zu ihrem Hit „Mail me“ ein Code. Die Ziffer auf den Oberteilen der Mädchen gepaart mit der Anzahl an Fingern, die die Mädchen hochhalten, gibt an, wie oft jeweilige Mobiltelefon-Tasten gedrückt werden sollen. Drückt man auf einer Telefontastatur mit Buchstaben die entsprechende Reihenfolge liest sich auf dem Display: SUICIDE. Wählt man hingegen die Telefonnummer, die sich aus der Zahlenreihenfolge aus den Oberteilen der Mädchen ergibt, gerät man an eine Hotline, die darauf hinweist, dass es den “Suicide Club” nicht gibt, aber dennoch gerne mitgemacht werden darf – an der Selbstmordserie, versteht sich. Auch wenn sich der festgenommene Sektenführer als unschuldig und Selbstdarsteller herausstellt, eröffnet die Titulierung „Charles Manson des Informationszeitalters“ einen Diskurs um neue Medien, der sich in der Geschichte von “Suicide Club” abspielt und mit dem Prequel “Noriko’s Dinner Table” von 2005 vertieft wird.
“Noriko’s Dinner Table” formuliert den Aspekt der (Medien-)Flucht aus und thematisiert tiefergehender die allgemeinen eskapistischen Fluchtmotive der Jugendlichen in einem desolaten System. Wir begleiten die Schülerin Noriko, wie sie aus ihrem Elternhaus in die Großstadt Tōkyō flüchtet. Zuvor verbrachte Noriko viel Zeit auf der Internetseite haikyo.com, wo sie in Chaträumen neue virtuelle Freunde kennenlernte. So auch eine Tōkyōterin mit dem Username „Ueno Station 54“ mit der sich Noriko in Tōkyō trifft. Der Username „Ueno Station 54“ von Norikos neuer Freundin Yumiko deutet allerdings bereits voraus auf die 54 Mädchen, die sich an der gleichnamigen Station das Leben nehmen werden. Die Ueno Station in Tōkyō liegt zudem unter anderem auf der Hibiya-Linie, eine der Linien die dem Anschlag von ōmu shinrikyō zum Opfer fiel und ist damit eine Konkretisierung der traumatischen Parallelen zwischen der Handlung in Sion Sonos Filmen und den Geschehnissen der 90er Jahre.

Seit den 90er Jahren hat sich die Verbreitung von Internetzugängen weltweit rapide vervielfacht. In Norikos erscheint das Internet ein Randphänomen, dessen Potenzial nur sie zu begreifen scheint. Vor ihrer Schulklasse vertritt sie ihre Überzeugung und äußert folgendes:
„I think we should be able to use the computers anytime we want. Cause if we could, then we’d get much more information.”
„Haikyo”, der Name der Webseite, lässt sich je nach Schreibweise etwa als „Ruine“ oder „Abtrünnigkeit“ übersetzen, und gibt damit in beiden Fällen einen Kommentar über die Webseite als Örtlichkeit und den Status seiner Nutzer ab. Die Webseite verkörpert demnach einen Ort der Realitätsflucht für normativ abgespaltene Individuen und wird dadurch zur Echokammer. Inwiefern Sekten und Kulte von individuellen und gesamtgesellschaftlichen Charakteristiken profitieren wird deutlich, wenn man sich mit den Akteuren von Sekten ins Gespräch begibt. So tat es der Autor Murakami Haruki in seinem zweiten Teil des Buchs „Untergrundkrieg“, indem er sich mit den Ereignissen des Sarin-Anschlags auseinandersetzte und sowohl mit Opfern, als auch mit Mitgliedern der ōmu shinrikyō-Sekte gesprochen. Zwei Aussagen der Mitglieder zu persönlichen und strukturellen Gründen seien hier zitiert:
„Bei Aum landen oft solche, die nicht ins System passen, weil sie sich entweder selbst nicht wohl darin fühlen oder von den anderen ausgeschlossen werden.“ (Murakami 2002: 303)
„Im Zusammenhang mit Aum heißt es häufig, gestörte Familienbeziehungen trieben Jugendliche in Sekten; aber diese Erklärung kommt mir zu einfach vor. Ich will nicht leugnen, dass ein Teil der Anziehungskraft, die Aum auf junge Leute ausübt, mit ihren Frustrationen und Problemen in der Familie zu tun hat, aber ein weit wichtigerer Faktor scheint mir das allgegenwärtige apokalyptische Klima zu sein, das Gefühl, das Ende der Welt steht in Kürze bevor.“ (ebd.: 382)
Noriko fällt also auf dem Dorf die Decke auf den Kopf und macht aus der Medienflucht eine physische Flucht, weil sie sich bei ihrer neu gefundenen Freundin sozial verstanden fühlt. Noriko betreibt damit gleichzeitig Landflucht. In Japan ist die Landflucht schon seit Mitte des 20. Jahrhundert unentwegt im Gange und machte auch in der verlorenen Dekade keinen Halt. Durch die Prekarisierung und den Anstieg atypischer Beschäftigungsverhältnisse wurde hinzukommend aber das Leben in der teureren Stadt erschwert. Ohne höheren Bildungsabschluss schließt sich Noriko so der Arbeit ihrer neuen Freundin Yumiko an, die im rental family service arbeitet. Dieses Businessmodell, indem sich Schauspieler:innen gegen Bezahlung als Familienmitglieder der Klienten ausgeben, wurde in Japan in den 90er Jahren losgetreten und macht seitdem ein kontinuierliches Phänomen einer vereinsamenden Gesellschaft aus. Mehr noch als “Suicide Club” skizziert “Noriko’s Dinner Table” damit ein ganzheitliches Bild einer sich wandelnden Gesellschaftsstruktur die in den 90er Jahren auftrat und die vermeintlich einheitliche, japanische Gesellschaft zerrüttete. Das Aufkommen neuer Medien lässt sich dabei etwa auch als ein Treiber der in Isolation lebenden hikkikomori begreifen, haben die neuen Medien doch das Potenzial parasoziale Kontakte erst zuzulassen. Außerdem können sie einen eskapistischen Lebensstil durch die immer neuen, endlosen Inhalte unterstützen. Bei Noriko haben die parasozialen Kontakte, die sie geknüpft hat, sogar zu eigenermächtigten Entscheidungen geführt. Das Vertrauen in eine, ihr nur aus dem Internet bekannte Person, hat sie blindlinks zur Flucht animiert, weswegen man bei Yumiko von einer gewiss überzeugend wirkenden Person ausgehen könnte. Eine Person die involviert und mitreißt, wie im extremen Maße Sektenführer oder im heute gemäßigten Sinne Influencer. Inwiefern der “Suicide Club” nun einem tatsächlichen Kult entspringt oder als ein Internetphänomen betrachtet werden kann, dass sich wie heutige Challenges auf den verschiedenen sozialen Netzwerken immer wieder verbreiten oder durch den Werther-Effekt befeuert wird, ist offen zu lassen. Jedes dieser Szenarien trifft eine Aussage über Aspekte der japanischen Traumata der 90er Jahre bis in die Gegenwart. Seien es die Risiken von alternativen Weltanschauungen oder von der Informationsfülle in hoher Geschwindigkeit durch neue Medientechnologien. Letztlich profitiert ersteres von letzterem, was uns gerade anhand von Verschwörungserzählungen rund um die Corona-Pandemie, brennglasartig vor Augen geführt wird. Die neuen Medien stellen ein Informationskanal mit Hochgeschwindigkeit dar, dessen Filterung zwischen Faktizität und Postfaktizität mit verbesserter Technologie stets schwerer wird. Womit wir uns konfrontiert sehen im Zeitalter hochdynamischer Informationsflüsse, ist eine Informationsbombe (La bombe informatique), wie sie der Philosoph Paul Virilio nennt:
“After the first bomb, the atom bomb, which was capable of using the energy of radioactivity to smash matter, the spectre of a second bomb is looming at the end of this millennium. This is the information bomb, capable of using the interactivity of information to wreck the peace between nations.” (Virilio 2005: 63)
Echokammern gepaart mit einer aufkommenden Postfaktizität, von der auch esoterische Strömungen geprägt sind, sind also fruchtbarer Boden für die Verbreitung von Doktrinen. Auch die ōmu shinrikyō-Sekte hat sich in ihrer Distribution von Informationen nicht nur auf Offline-Medien, sondern auch Online-Medien zurückgegriffen. Neben Büchern oder Mangas hat die Sekte audiovisuelle Medien wie Videos, Radioshows, Anime bedient und schließlich eine eigene Webseite unterhalten. Während die Webseite erst nach dem Anschlag an den Start ging, wurde zuvor jedoch bereits über das Computernetzwerk „ōmu shinrikyō net“ kommuniziert über das sich Personen austauschen konnten und über das auch Personen von der Sekte erfuhren und ihr dadurch beitraten. Anders als im angeführten Zitat, besitzt die Informationsbombe nicht nur das Potential den Frieden zwischen Nationen, sondern auch innerhalb von Nationen zu destruieren.
Love Exposure
Solang der Film “Love Exposure” ist, so lang und breit könnte man über ihn schreiben. Für meine Zwecke macht das fast vier Stunden lange Magnum Opus den Diskurs um die Thematik von konkreten neureligiösen Vereinigungen und ihre Auswirkung auf das gesellschaftliche Leben dabei zu einem profunderem und deutlicheren Gegenstand als die beiden voran besprochenen Filme. Mit dem Tod von Yus Mutter verschreibt sich sein Vater Tetsu dem Priestertum. Gerade das christliche Konzept von Sünde und Buße prägt dabei Tetsus religiöse Auseinandersetzung, und während er sich in die Sündhaftigkeit des Lebens versteift und seinen Sohn zu täglichen Beichten drängt, sorgt eine neue Liebschaft mit Kaori dafür, dass er selbst in Konflikt mit dem Zölibat kommt. Yu, der auf die vehemente Beichtpflicht seines Vaters keine Beichten nennen kann, beginnt ein sündhaftes Leben um wirkliche Beichten ablegen zu können. So beginnt er mit neu gefundenen Freunden voyeuristische Unterwäschefotos von Frauen in Röcken zu schießen. Anders als seinen Freunden geht es Yu dabei primär um die Sündhaftigkeit und kein sexuelles Verlangen. So herrscht in ihm der Wille seiner Mutter, eine Frau zu finden und zu heiraten, die wie die heilige Mutter Maria ist. Als Yu bei einer Wette verliert, muss er als Frau verkleidet in die Stadt gehen und eine andere Frau küssen. Dabei begegnet er Yoko, die von einer Bande Männern angepöbelt wird und gewillt ist gegen sie zu kämpfen. Immer noch kostümiert stellt sich Yu ihr zur Seite. Yu findet in Yoko sein angepriesenes Bildnis von Maria und verliebt sich. Yoko verliebt sich in Sasori, Yus kostümiertes Alter Ego. Dass sich Yoko als Tochter eines Exfreundes von Kaori herausstellt und Yoko und Kaori beide eine enge Beziehung verbindet, verkompliziert schließlich die Situation, als Yu, Tetsu, Kaori und Yoko zusammenziehen.
Ein paralleler Handlungsstrang wird zuvor in einer Sequenz des Films eröffnet, in der Yu bei einer Unterwäschefotografie von den Opfern dabei erwischt und zur Rede gestellt wird. Yu beginnt zu beten und offenbart der betroffenen Frau, dass er eine Sünde begangen hat. Er verfügt über eine verderbte Natur und bezeichnet sich daher als Träger der Erbsünde. Yus Opfer stellt sich als Aya Koike heraus, die Anführerin einer Splitterkonfession namens Zero Church. Koike ist die Tochter eines angesehenen, aber im Sterben liegenden Christen. Allerdings wurde Koike im jungen Alter von ihrem Vater schwer misshandelt, weil sie durch ihre Attraktivität in seinen Augen sündhaft lebte. Als Folge ihrer radikalen Erziehung ermordet sie ihren Liebhaber in der Schule und kastriert später ihren Vater, als er von einem Schlaganfall regungslos war. Koike trifft einen ominösen Herrn und wird von diesem in die Zero Church eingeladen, folglich zu dieser bekehrt und arbeitet nunmehr um alles Geld der Gemeinschaft zu gute kommen zu lassen. Der ominöse Herr hat die Erbsünde an Koike gerochen und sie daher für auserkoren angesehen. Mit Yu als Erbsündigen ergreift Koike den Plan die Familie um Yu und seinen Priestervater zur Zero Church zu bekehren, in der Annahme, dass gleich die ganze christliche Gemeinde mit konvertiert. So beginnt Koike Yu zu beobachten und infiltriert mit Intrigen sein Leben. So befeuert sie das erste Zusammentreffen von Yu und Yoko, nutzt späterhin aber Yus Dilemma um sein Alter Ego aus, um sich selbst als Sasori auszugeben und so Yokos Liebe zu annektieren. Koikes Plan gelingt und was folgt ist ein mühsamer Kampf von Yu, der Yoko, Tetsu und Kaori aus den Fängen der Zero Church befreien will, wo sie durch Indoktrination ein gehirngewaschen dumpfes Leben fristen.
Der erste Berührungspunkt mit der Zero Church ist bereits im ersten Viertel des Films. In einem Fernsehbeitrag wird erwähnt, wie Mitglieder der Vereinigung in der Öffentlichkeit Spenden für wohltätige Zwecke sammeln. Tetsu benennt derlei Kulte als schrecklich, woraufhin ihm Kaori seine Scheinheiligkeit vorhält. Der Kult beweist seinen Glauben durch monetäre Spenden, während sich Tetsu als christlicher Priester weder an sein Zölibat hält, noch dazu übergeht Kaori zu heiraten und damit seinen Gott gleich zweifach enttäuscht. Wie bereits angemerkt, muss man sich auch vergegenwärtigen, dass das Christentum in Japan selbst eine religiöse Minderheit einnimmt. Religionsfreiheit und damit die entkriminalisierte Auslebung des Christentums, welche zuvor verboten war, geht in Japan auf die Meiji-Restauration Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Das Christentum selbst fällt also nicht explizit in die alternativen spirituellen Strömungen, die man als New Age begreift, während sich die Zero Church in vielen Punkten am Christentum orientiert und sich in seinen Zügen radikalisiert hat. Die Zero Church entspringt etwa sichtbar der Vorstellung eines lasterhaften und irreversiblen Sündenfalls, wir sehen aber auch, dass nicht nur die fatalistische Überzeugung, sondern organisiertes, manipulatives Kalkül ein Motor ist, um die Zero Church zum Wachstum zu verhelfen. Im Generellen besitzt das Christentum trotz seiner Minderheit einen normalisierten Rang in der japanischen Kultur und verfügt etwa über synkretistische Aspekte in der Mehrheitsgesellschaft aus Shintoismus und Buddhismus. Während die christliche Trauzeremonie oder verschiedene Feiertage wie das Weihnachtsfest synkretistisch Anwendung finden, erscheint das christliche Konzept des Bußsakraments zumindest im Film als ein Kuriosum. Nicht nur steigert sich Tetsu in ein fanatisches Maß des Sündenbekenntnisses, das er seinem Sohn Yu abverlangt. Später tritt Yu in einem Club selbst als Priesterfigur auf und dient dazu sich die sexuellen Neigungen der anwesenden Personen im Sinne einer Beichte anzuhören und sie von ihren Sünden loszusprechen. Dabei handelt er jede noch so eigenwillige oder problematische Beichte, wie Stalking, Pädophilie oder Autodestruktion, mit Gleichgültigkeit ab und kommt erst ins Stocken, als ihm jemand seine Neigung beichtet, eine Bombe unter vielen Leuten zünden zu wollen.
Mit alarmierender Vorsicht wirft Sono in “Love Exposure” also einen Blick auf die radikale Landschaft von New Age-Bewegungen und hält sich bei den kausalen Zusammenhängen zwischen Protagonist:innen und der Empfänglichkeit zum Sektenbeitritt an allgemein rezipierte Muster. Das heißt, die Motive der Protagonist:innen in Love Exposure machen Parallelen sichtbar, die sich mit den Schilderungen der ehemaligen Mitglieder der ōmu shinrikyō-Sekte decken. Während “Suicide Club” und “Noriko‘s Dinner Table” auf subtilere Weise die gesamtgesellschaftlichen Dynamiken zwischen Prekarisierung und medientechnologischer Revolution behandelt, und unter anderem Noriko als eine unstete Akteurin innerhalb der gesellschaftlichen Dynamik thematisiert, konkretisiert “Love Exposure” die manipulative Arbeitsweise von Sekten anhand labiler Akteur:innen. Dabei mag Koike als Antagonistin auftreten, ist vor ihrem familialen Hintergrund allerdings ebenso ein instrumentalisiertes Opfer der Zero Church.
Sion Sonos Authentizität
In dem Trailer zu “Love Exposure” heißt es, dass der Film auf einer wahren Begebenheit beruht. In einem Interview mit The Brooklyn Rail erklärt Sono über “Love Exposure”:
“It’s 10% true and 90% lies. The only part that’s true is that I have a friend who is a professional voyeur photographer, a professional “hentai” (pervert), and he had a little sister who fell into the clutches of a cultish religion. Like in the film they were able to retrieve her and she was able to leave the church.” (Wilentz 2009)
Das Quäntchen an Realitätsanspruch ist in Sonos Werken mal im stärkeren und mal im subtileren Maße vertreten und zeigt sich in verschiedenen Formen. In der so genannten Hate-Trilogie, die aus den Filmen “Love Exposure”, “Cold Fish” (2010) und “Guilty of Romance” (2011) besteht, ist der Film “Cold Fish” an eine konkrete Mordserie angelehnt. Der Film “Guilty of Romance” schlägt hingegen viel eher lediglich in dieselbe Kerbe wie japanische Prekariatsliteratur und erinnert mit seiner grotesken, unbehaglichen und schmutzigen Inszenierung an Romane von Murakami Ryū, wo die Spannung durch fassadenhaft undurchschaubare Charaktere entsteht. Den Film “Himizu” (2011) hingegen verschob Sono im Jahr 2011 nach der Dreifach-Katastrophe um einige Szenen in der noch von Erdbeben und Flut zerstörten Landschaft der Präfektur Ibaraki zu drehen. Der ruhige, und apokalyptisch scheinende Sci-Fi-Film “The Whispering Star” (2015) hingegen wurde zu Teilen in verlassenen, urbanen Sperrzonen gedreht die durch die Nuklearkatastrophe 2011 auf Erdbeben und Flut folgte. Sion Sono zeigt damit, dass er sich inhaltlich, wie ästhetisch immer am Zahn des japanischen Zeitgeists orientiert und erzählt filmisch damit die wohl authentischsten japanischen Geschichten der (post)modernen Ära.
Literatur:
Baffelli, Erica (2016): Media and New Religions in Japan. New York: Routledge.
Davie, Grace (2015): Religion in Britain. A Persistend Paradox. Second Edition. Oxfort: Blackwell Publishers.
Gebhardt, Lisette (2001): Japans Neue Spiritualität. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag.
Mörth, Ingo (1989): New Age – neue Religion? Theoretische Überlegungen und empirische Hinweise zur sozialen Bedeutung des Wendezeit-Syndroms. In M. Haller, H.-J. Hoffmann-Nowotny, & W. Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft: Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988 (S. 297-320). Frankfurt am Main: Campus Verl. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-148836
Murakami, Haruki (2002): Untergrundkrieg: Der Anschlag von Tokyo. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag.
Obinger, Julia (2009): Working Poor in Japan. Atypische Beschäftigungsformen im aktuellen Diskurs. In: Irene Götz und Barbara Lemberger (Hg.): Prekär arbeiten, prekär leben. Kulturwissenschaftliche Perspektive auf ein gesellschaftliches Phänomen. Frankfurt am Main: Campus Verlag. S. 163-182.
Virilio, Paul (2005): The Information Bomb. London, New York: Verso.
Wilentz, David (2009): 10% True, 90% Lies: SION SONO with David Wilentz: https://brooklynrail.org/2009/09/film/10-true-90-lies